Vielleicht sollte ich das hier nicht so schreiben – und ich schreibe es trotzdem: Ich habe einen Kunden verloren! Obwohl das Pilot-Seminar, das ich für diesen Kunden gehalten habe, bei den Teilnehmern sehr gut angekommen ist. Obwohl ich zu der Personalentwicklerin, der es wichtig war für diesen einen Seminartag eine ganze Reihe von Vorgesprächen zu führen, einen guten Draht aufgebaut hatte. Obwohl eine Reihe weiterer Seminare bei dieser Firma lose verabredet war.
Jetzt ging es nur noch um eine Nachbesprechung des Pilot-Seminars in einer Zoom-Schaltung. Leider war ich an diesem Tag mit dem falschen Fuß aus dem Bett aufgestanden.
Das Seminar und die Besprechungstermine fielen alle ins vierte Quartal – eine Phase, in der bei mir immer unglaublich viel los ist. Ich stand praktisch jeden Tag irgendwo in einem Seminarraum. Meine Seminar-Vor- und Nachbereitung fand zu einem Großteil an den Wochenenden und nachts statt. Auch die Angebote für die Folgeseminare für diesen Kunden hatte ich nachts geschrieben und dann auf Kundenwunsch hin mehrmals abgeändert. An den wenigen seminarfreien Tagen, auf die ich die Vorbesprechungstermine und die Nachbesprechung mit dem Kunden gelegt hatte, hätte ich mich eigentlich um meine überquellende Inbox kümmern müssen. Mit einem Wort: Ich war gestresst.
Trotzdem lief die Zoom-Nachbesprechung, bei der neben der Personalentwicklerin auch der Geschäftsführer des Unternehmens zugeschaltet war, sehr gut. Der Geschäftsführer hatte selbst am Pilotseminar teilgenommen und es hatte ihm gefallen. Eigentlich waren wir schon mit allen inhaltlichen Punkten durch und ich gedanklich mit halben Hirn schon bei meinen nächsten Deadlines. Da fällt ein Satz der Personalentwicklerin: „Herr Pressler, wir hatten ja verabredet, dass Sie sich im Seminar mit den Teilnehmern auch noch mit dem Thema X beschäftigen. Das haben Sie nicht gemacht. Wenn wir so etwas besprechen, muss ich mich da schon drauf verlassen können!“
Stimmt! Hatte ich nicht gemacht. Für das Thema X hatte ich bei dieser unerwartet diskussionsfreudigen Gruppe einfach keine Zeit mehr gefunden. Ich hatte der Personalentwicklerin in den Vorbesprechungen aber auch angeraten, zwei Seminartage statt nur einem zu veranschlagen – was aber aus organisatorischen Gründen nicht möglich war. Ich hatte darauf hingewiesen, dass die Agenda unter diesen Rahmenbedingungen sehr voll war und ich möglicherweise nicht alle gewünschten Inhalte an einem Tag würde vermitteln können. Und ich hatte eine Reduzierung der Teilnehmerzahl empfohlen. Vor allem aber war bei mir nicht angekommen, dass der Personalentwicklerin das Thema X besonders wichtig war.
Meine Antwort (immerhin in einem freundlichen Tonfall): „Die Teilnehmer haben einfach bei anderen Themen sehr lange und produktiv diskutiert. Aus zeitlichen Gründen war es dann bei dieser großen Gruppe und an nur einem Seminartag gar nicht möglich das Thema X noch mit reinzunehmen. Das hatte ich Ihnen auch vorher gesagt. Letztendlich müssen Sie es mir überlassen, ob ich ein Thema in einer bestimmten Seminarsituation mit den Teilnehmern noch sinnvoll bearbeiten kann.“
Wir haben das Gespräch dann noch freundlich zu Ende geführt – und ich habe von diesem Kunden und den geplanten Folgeseminaren nie mehr etwas gehört. Ich habe mich geärgert! Nicht über den Kunden. Über mich selbst!
Kennst du den Satz: Man darf Kundenbeschwerden und Reklamationen niemals persönlich nehmen! Und man muss auch bei schwierigen Kunden cool bleiben! Das sagt sich so leicht. Und ist doch ziemlich schwer. Gerade, wenn man gestresst ist und gedanklich nicht voll bei der Sache. Sicher hast du schon einmal vom sogenannten Flucht-und-Kampfhirn gehört. Das ist ein Areal unseres Gehirns. Eine Art Autopilot, der bei unseren Vorfahren dafür verantwortlich war, Angriffe von Säbelzahntigern bestmöglich abzuwehren. Dieser Autopilot wird innerhalb von Sekundenbruchteilen hochgefahren und übernimmt sofort die Kontrolle über unsere Handlungen. Jeder Prankenhieb wird dann reflexhaft mit einem Gegenangriff mit dem Feuerstein-Speer beantwortet – ohne dass wir uns rational bewusst wären, was genau wir da gerade tun. Unseren Vorfahren hat dieses Flucht- und Kampfhirn das Überleben gesichert. Uns kommt dieser Autopilot in unserer Säbelzahntiger-freien Welt bei Kundengesprächen, schwierigen Kunden und Kunden-Reklamationen leider ab und zu in die Quere. Wenn du nicht aufpasst, interpretiert dein Hirn eine Kundenbeschwerde als Prankenhieb und beginnt sich zu rechtfertigen, leitet den Gegenschlag ein. Dann verlierst du den Kunden. Und obwohl ich Trainer bin und es eigentlich besser wissen müsste – war mir genau das passiert!
Es langt also nicht, sich klarzumachen, dass wir Kundenbeschwerden und Reklamationen niemals persönlich nehmen dürfen. Wir brauchen eine Technik. Ich habe lange über das Gespräch mit meinem Kunden nachgedacht – und die LEAF-Technik entwickelt.
Das englische Wort LEAF bedeutet „Blatt“. Wenn ein Blatt von einem harten Windstoß getroffen wird, dann leistet es keinen Gegendruck, startet keinen Gegenangriff. Es dreht sich einfach und findet so eine Position, in der es dem Windstoß möglichst wenig Widerstand bietet. Eine französische Firma stellt sogar künstliche Bäume her, deren Blätter dem Wind nicht nur ausweichen, sondern ihn in Energie umwandeln. Und genau das schaffst du auch mit der LEAF-Methode.
Leaf steht für
Listen –> Höre zu: Höre dem Kunden mit deiner vollen Aufmerksamkeit zu (nicht wie ich – schon mit halbem Hirn woanders). Konzentriere dich dabei darauf, die (emotionalen) Bedürfnisse deines Kunden herauszuhören – nicht den Angriff. In meinem Fall hat sich die Kundin vermutlich einfach verlässlichere Absprachen gewünscht und war verärgert, weil ich sie in Anwesenheit ihres Geschäftsführers quasi „abgebügelt“ hatte. Reagiere nicht vorschnell und unterbrich deinen Kunden nicht.
Empathize –> Zeige Empathie und Verständnis: Gib einem Kunden niemals das Gefühl, dass er oder sein Anliegen bzw sein Beschwerde / Reklamation „falsch“ ist. Leider hatte ich bei meiner Kundin genau das getan. Ich hatte ihr quasi (in etwas freundlicheren Worten) gesagt, dass sie selbst daran schuld ist, dass das Thema X im Seminar nicht aufgegriffen wurde. Wenn in einem Kundengespräch die Schuldfrage in den Mittelpunkt rückt, ist es IMMER der Dienstleister / Lieferant, der verliert! Zeige stattdessen Empathie und Verständnis. Sage, dass du seine Beschwerde nachvollziehen kannst. Dass es dir an seiner Stelle möglicherweise genauso gegangen wäre. Gib dem Kunden das Gefühl, dass du sein Anliegen verstehst. Das ist nicht das gleiche, wie ihm Recht zu geben! Es geht hier um die emotionale Ebene, nicht um die Sachebene. In meinem Fall hätte das in etwa so klingen können: „Entschuldigung! Wir haben Thema X am Donnerstag nicht mehr ansprechen können. Ich verstehe, dass Sie da ärgerlich sind. Wir hatten es ja so abgesprochen, dass ich es noch unterbringe…“
Ask questions to truely understand the customer –> Frage nach, um zu verstehen, um was es dem Kunden wirklich geht: Viel zu oft glauben wir, schon verstanden zu haben, was der Kunde will – wissen es aber tatsächlich nicht, sondern interpretieren das Gesagte einfach vor dem Hintergrund unserer bisherigen Erfahrungen mit anderen Kunden. Wenn es dumm läuft, dann liegen wir aber daneben, weil dieser Kunde eben nicht genau das gleiche Anliegen hat, wie die fünf Kunden vor ihm. Um den Kunden wirklich zu verstehen müssen wir ihm Fragen stellen. Bei komplexen Themen und wenn wir selbst das Gefühl haben, das Kundenanliegen noch nicht genau verstanden zu haben, machen hier offene Fragen Sinn. „Wann ist das Problem denn zum ersten Mal aufgetreten?“ „Woran genau haben Sie gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist?“ „Wie könnte denn eine Lösung aussehen, damit Sie sagen, Sie sind zufrieden?“ Nur wenn das Anliegen wirklich schon glasklar geäußert wurde und wir uns 100% sicher sind zu wissen, um was es geht, können wir diesen Schritt überspringen. Aber auch dann finde ich eine Kontrollfrage sinnvoll, um sicherzugehen, nichts missverstanden zu haben. In meinem Fall hätte ich fragen können: „Dann geht es Ihnen darum, wie wir in Zukunft sicherstellen können, dass für die Themen, die Ihnen wichtig sind, auch genug Zeit bleibt?“
(Re)Focus on the solution –> Lenke die Aufmerksamkeit des Kunden auf Lösungsmöglichkeiten: Die Aufmerksamkeit muss weg von der Schuldfrage! Wenn du dich auf die Schuldfrage einlässt, kannst du nur verlieren. Stelle Optionen für eine Lösung in den Mittelpunkt. Richte den Blick deines Kunden neu aus – und zwar nach vorne. Wenn du Optionen anbietest, dann ist das doppelt gut, denn du gibst deinem Kunden dann das Gefühl, auswählen zu können. Er hat dann das Gefühl, dass die Entscheidung bei ihm liegt. Welche Lösung er auch immer bevorzugt: Es ist keine, die ihm von dir vorgeschrieben wurde (friss oder stirb!), sondern eine, für die er sich aktiv entschieden hat. Menschen finden Lösungen, die auf eigenen Entscheidungen basieren, deutlich attraktiver. In meinem Fall hätte ich folgendes vorschlagen können: „Macht es für Sie Sinn, dass wir dann vor jedem Seminar absprechen, welche Inhalte auf jeden Fall drankommen müssen und welche optional sind? Oder sollten wir überlegen, ob wir das Seminar in Zukunft doch als Zweitäger anbieten?“
Der Vorteil der LEAF-Methode ist, dass sie einfach ist. Sobald du spürst, dass dein Flucht- und Kampfhirn sich regt, sind es vier simple Schritte, denen du folgen kannst. Die Chance ist groß, dass du damit unzufriedene und schwierige Kunden mit ihren Beschwerden nicht einfach nur abfängst, sondern tatsächlich eine bessere Beziehung und eine bessere Kundenbindung herstellst.
Und was ist, wenn eine Reklamation tatsächlich ungerechtfertigt ist und du einem Kunden nicht das geben willst (oder kannst) was er sich wünscht? Dann gehe folgendermaßen vor:
Senke das Erwartungs-Niveau ab: „Herr Kunde, ich möchte mich hier wirklich für Sie einsetzen. Ich fürchte, dass wir es aber leider nicht so lösen können, wie Sie sich das wünschen. Folgender Vorschlag: Auch wenn ich Ihnen nicht viel Hoffnung machen kann. Ich schaue mir das jetzt nochmal genau an und finde heraus, was möglich ist. Dann rufe ich Sie in zwei Stunden nochmal an. Ist das ok für Sie?“
Der Vorteil dieser Methode ist, dass du in diesem Moment einen Kampf mit dem Kunden vermeidest. Denn wenn du ihm in diesem Moment (er ist ja noch aufgebracht) ins Gesicht sagen würdest, dass du ihm seinen Reklamations-Wunsch nicht erfüllen kannst, dann würde er diskutieren und kämpfen. Durch die Ankündigung, nochmal genau nachzuforschen, umgehst du diese Diskussionen.
Wenn du dann zwei Stunden später anrufst, hat sich dein Kunde inzwischen beruhigt. Und die Erwartung, dass wahrscheinlich nichts zu machen ist, ist inzwischen so langsam in seinem Kopf angekommen. Wenn du nun doch etwas positives anzubieten hast, wird er das als unerwarteten Erfolg verbuchen. Du kannst die Kundenbindung dadurch sogar noch verstärken.
Und falls es dabei bleibt, dass du den Kundenwunsch nicht erfüllen kannst, sind hochkochende Emotionen beim Kunden und lange Diskussionen mit ihm nun unwahrscheinlicher.